„Gleichgewicht wird zu Fortschritt.“ Rudolf Steiner, der das Gleichgewicht als Tugend mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht hat, gibt uns damit eine Übung, um auch die Wirkung daraus zu bemerken. Er versteht darunter sicher keine langweilige Mitte, als eher eine ausgewogene Vielfalt. Gemeint ist primär das Lebensgleichgewicht, das heißt, Einseitigkeiten im Leben zu bemerken und auszugleichen. Das Bedeutende an dieser Tugend ist aber – wie natürlich bei allen Tugenden –, dass sie vom Menschen selbst motiviert ist. Eine Tugend kann niemals zu einer Kraft führen, wenn sie nur pflichtgemäß geübt wird, was oft der Vorstellung eines „guten“ Menschen entspricht.
Körperlich gesehen bringen wir uns permanent ins Gleichgewicht. Im Stehen, beim Gehen und allgemein beim Bewegen wirken wir permanent einseitigen Schwankungen entgegen und korrigieren diese. Das Gleichgewicht herzustellen, ist eine wirkliche – wenn auch unbemerkte – Aktivität, es entsteht nicht von allein.
Wenn man sich einmal selbst bei ruhiger Aufrichtung im Stehen betrachtet, so bemerkt man ein kontinuierliches feines Ausgleichen zwischen links und rechts sowie zwischen vorne und hinten – man bemerkt, wie man immerfort die Mitte zwischen verschiedenen Kräfteverhältnissen in der Aufrichtung sucht. Diese Mitte in der freien Aufrichtung lässt sich mit einer einfachen Übung in Erfahrung bringen:
Verlagere im Stehen leicht das Gewicht mit geradem Körper zur Seite, so dass die Fußaußenkante belastet wird. Setze die Verlagerng nun kreisförmig fort – über die Fußballen mit den Zehen, übergehend zur anderen Fußaußenkante, dann zur Ferse nach hinten, zur anderen Ferse, wieder über die Fußaußenkante usw. (auch die Richtung wechseln). Verlagere das Gewicht so, dass es fast schon zum Kippen kommt und der Druck auf den jeweiligen Bereich des Fußes deutlich zu spüren ist. Bleibe in der Wahrnehmung der Gewichtsverlagerungen und gehe nicht ins „Schunkeln“ über. Halte Dich nach ein paar Runden wieder in der Mitte und achte auf Deine Mittelachse. Jetzt sollte sie sich deutlich frei von der Schwerkraft anfühlen – leicht und fein aufstrebend.
Wir suchen also mit der Wirbelsäule fortwährend diese „schwerelose“ Aufrichtung. Sobald das Gewicht zu einer Seite kippt, liefern wir den Körper stärker der Schwerkraft aus, in der Aufrichtung sind wir am freiesten von der Schwerkraft und können die Arme frei bewegen.
Dieses Phänomen der „Schwerelosigkeit“ erlebt man vor allem in der Vertikalen, bei der die Wirbelsäule in ein Lot kommt. Im Yoga sind das die Übungen „Berg“, „Baum“ aber auch der „Schulterstand“ und „Kopfstand“. (Interessanterweise erlebt man die Vertikale beim Kopfstand sogar bewusster, da man sie in der Umkehrung neu finden muss.) Bei den reinen Gleichgewichtsstellungen, wie hier beim Baum, ist das Erleben der Vertikalen aber nicht so sehr von der äußeren Form geprägt, sondern von einer inneren Linie bei der der Herzbereich mit dem Punkt am Boden in Übereinstimmung gebracht wird. Man richtet sich in dieser Linie auf.
Und es kommt noch ein Zweites hinzu:
die Mitte beim Herzen im Verhältnis zum umgebenden Raum. Denn man ist viel mehr den Schwankungen im freien Raum ausgesetzt, als im sicheren Stand mit beiden Füßen auf dem Boden. Und damit bildet das Herz nicht nur in der Vertikalen eine Mitte, sondern auch im Verhältnis zum umgebenden freien Raum. Öffnet man zwischendurch die Arme, so wird die Aufmerksamkeit vermehrt nach außen gelenkt. Die Wahrnehmung öffnet sich für die räumliche Umgebung im Verhältnis zum eigenen Stand. Es ist gut, die Arme ein wenig nach außen streben zu lassen, gerade so viel, dass es nicht in die Anspannung führt, dadurch hebt sich auch der Herzbereich etwas besser in die Aufrichtung und Präsenz. Zusätzlich entsteht über die nach vorne geöffneten Hände die Empfindung für den vorderen Raum und es lässt sich im Vergleich dazu der hintere Raum erahnen.
Gegenüber dem äußeren Leben zeigt sich dieses Ausgleichen und Korrigieren auf allen Gebieten: Man vermeidet z.B. eine einseitige Ernährung, Bewegung, Beschäftigung und sucht Abwechslung sowie Ausgewogenheit. Aber nicht nur das Variieren, auch das Verhältnis zwischen zu viel und zu wenig muss von uns selbst geführt und gestaltet werden: Wachen und Schlafen, Ruhen und Rege-Sein, Sprechen und Zuhören, Arbeit und Freizeit – zwischen all den Polaritäten des Lebens. So kommen wir wieder zur Aktivität, die sich innerhalb dieses äußeren Abstimmens ausdrückt, welches eben nicht von selbst entsteht, man muss es machen. Dabei entwickelt sich eine Art innerer Sinn für die Wirkungen der Gegensätze und wie ich selbst lenkend eingreifen kann. Aus diesem Herstellen des Gleichgewichtes entsteht die Ich-Empfindung, weil ich es bewirke.
Diese Ich-Empfindung lässt sich in einer weiteren, sehr einfachen Übung in Erfahrung bringen:
Lege in entspannter Aufrichtung beide Handflächen von außen nach innen ein kleines Stück vor dem Brustbein zusammen. Lasse dabei die Ellbogen und Schultern locker fallen. Achte nun auf die Berührung der Handflächen und ihre Form.
Die Form ist wieder eine Vertikale analog zur Aufrichtung. Versuche einmal, bei aneinander gelegten Händen den Brustkorb einsinken zu lassen. Man hat unweigerlich den Eindruck, dies läuft der Geste der Hände entgegen. Richte dann wieder sanft ohne Strenge das Brustbein in Richtung der gefalteten Hände auf. Diese Geste richtet also den Herzbereich und indirekt auch das eigene Haupt auf, so dass die Augen wach nach außen blicken.
In der Berührung von linker und rechter Hand entsteht gleichzeitig eine Fläche. Diese Fläche kann man sich als Ebene in der Mitte des eigenen Körpers vorstellen. Sie hat einen Bezug zu allen symmetrisch angelegten Organen und Gliedern.
Rudolf Steiner weist darauf hin, dass das Zusammenlegen der Handflächen, das die Symmetrien in Übereinstimmung bringt, eine Ich-Tätigkeit ist:
„Indem wir die Hände zusammenschlagen und eine Hand an der andern fühlen, kommt schon etwas von der Ich-Empfindung zustande. Etwas ganz Ähnliches aber tun wir, indem wir das Ergebnis der beiden Augen, der beiden Ohren in eine Einheit zusammenfügen. Wir nehmen die Welt immer von zwei Seiten her wahr, von links und von rechts, wenn es sich um die Sinneswahrnehmung handelt. Und nur dadurch, daß wir diese zwei Wahrnehmungsrichtungen haben von links und von rechts und diese zum Schnitt bringen, sind wir dieser Ich-Mensch, der wir sind. Sonst wären wir gar nicht dieser Ich-Mensch. Wenn wir zum Beispiel die Augen so hätten, daß sie in der Nähe der Ohren stehen würden, und wir die Visierlinie nicht zusammenfügen könnten, so würden wir immer ein Wesen bleiben, das in der Gruppenseele befangen ist. Wir müssen, um ein Ich-Wesen zu sein, das Links und Rechts zum Schnitt bringen. Alles, was auf dem Gebiete der Wahrnehmung links und rechts ist, bringen wir zum Schnitt in der Mitte.“ ¹
Oben habe ich beschrieben, wie das Ausgleichen eine innere Tätigkeit ist. Was Steiner mit dem „Ich-Wesen“ meint, ist vermutlich übertragbar auf diese Tätigkeit innerhalb der Dualitäten im äußeren Leben. Damit steht das Ich als Individuum in einer Wechselwirkung zur Außenwelt. Dieses Verhältnis vom Ich zum Umkreis wird auch bei der Zehenspitzenstellung erlebt, wenn man den Herzbereich als Mittelpunkt eines Umkreises denkt.
Das Bewusstsein versinkt nicht in der inneren Ruhe der Mitte, es bleibt sich des vorher gezeichneten Kreises im Raum gewahr. Dadurch entsteht ein Sinn für die Beziehung zwischen Ich und Umfeld, welches man auf das soziale aber auch allgemein auf die Außenwelt beziehen kann. Wichtig ist, diese Empfindung nicht nur symbolisch zu nehmen, sondern auf das Erleben in Zusammenhang mit diesem Gedanken zu achten. Denn es ist eine wesentliche Grundstimmung des individuellen Lebens, wie man mit der Umgebung in einem Verhältnis steht.
Die Wirbelsäule als Mittelachse in asymmetrischen Bewegungen
Wie schon eingangs erwähnt, muss das Gleichgewicht nicht als langweilige und immer korrekt geometrische Mitte verstanden werden. Die geometrische Mitte bezieht sich lediglich auf die Aufrichtung. Bei jeder Bewegung wirken verschiedene physikalische Kräfte und Gesetze, z.B. von Schwung und Kraft, Fliehkraft und Schwerkraft, Ausdehnung und Zentrierung, Belastung und Entlastung usw., so dass auch asymmetrische Bewegungen und Haltungen eine Mitte haben, eine gefühlte Mitte. In der Kunst arbeitet man beispielsweise bewusst mit Asymmetrien, da wird eine genaue Mittelung unkünstlerisch empfunden. Das liegt aber daran, dass man in einem Kunstwerk gerade die Gegensätze erleben will um darin innerlich rege zu werden und daran die Ich-Empfindung entsteht.
An dieser Stelle sollen noch zwei Beispiele für asymmetrische Yogaübungen kommen, welche dafür abwechselnd auf beiden Seiten ausgeführt werden. Die Beine kommen in eine Spannung und Ausdehnung, wirken aber mit der Wirbelsäule als Mittelachse zusammen. Die aktive Spannkraft wird bei den Yogaübungen meist in einem bestimmten Abschnitt der Wirbelsäule angesetzt. Dieser Bereich bildet eine Mitte innerhalb der Spannungsverhältnisse.
Die Vorwärtsbeuge mit einem gestreckten und einem angewinkelten Bein wirkt sich unterschiedlich auf die linke und rechte Seite des Oberkörpers aus. In dieser Ungleichheit entsteht die Aktivität über die Wirbelsäule als Mitte.
Eine weitere Yogaübung, die über die Beine eine asymmetrische Basis hat, ist die Taube. Die Bewegung wird ebenfalls über die Wirbelsäule ausgerichtet und findet ein Zentrum in der Brustwirbelsäule als Mitte.
Auch wenn die Hände in dieser vorbereitenden Phase nicht vor der Brust gefaltet werden, liegt die Aufmerksamkeit in diesem Bereich. Gerade in der Asymmetrie wird die Mitte über eine aktive Wirbelsäulendynamik gefunden und daraus die Bewegung weiter geformt.
Mit diesen letzten Beispielen möchte ich zeigen, dass in jeder Übung die bewusste Aktivität des Gestaltens innerhalb der Polaritäten stattfindet. In jeder Übung wird eine Mitte der inneren Ruhe erzeugt, aus der die Beobachtung, Wahrnehmung und Gestaltung geschieht und die zu finden in den spannungsreichen Übungen sogar noch eine größere Führung aus dem Bewusstsein verlangt. Betrachten wir die Wirbelsäule als „Achse der Persönlichkeit“, so wird deutlich, dass es nicht unwesentlich ist, ob man sich in der Wirbelsäule aktivieren kann oder ob man sich den Spannungen nur passiv ausgesetzt fühlt. Jede Haltung benötigt auch ein Rückgrat, welches von der eigenen Persönlichkeit innerlich getragen wird. Dafür ist es gut, wenn der Mensch seinen Körper richtig einzusetzen und eben die Wirbelsäule zu aktivieren lernt. Die äußere Haltung wird so zum Ausdruck der inneren Bemühung.
1) Rudolf Steiner GA 158, Seite:117 PDF einsehen