Eine innere Haltung bringt oft mehr zum Ausdruck, als eine äußere. Oder wenn verschiedene Menschen die gleiche äußere Haltung einnehmen, kann sie jeweils einen ganz anderen Ausdruck haben. Auch die Übung hat immer eine innere Haltung und kann im Ausdruck sehr unterschiedlich sein. Gibt es bei den Yogaübungen etwas, das dem Mitleid im Sinne des Erkennens und Einfühlens entspricht?
Die Tugenden formuliert Rudolf Steiner so, dass sie zu etwas Neuem in der Seele werden: „Mitleid wird zu Freiheit“. Er gibt damit einen Inhalt, den wir in seiner Bedeutung ergründen können. Und schon durch das Nachdenken über eine Tugend rückt der Sinn dafür näher. Man muss nicht meinen, eine Tugend wie das Mitleid nur pflegen zu können, wenn man schon ein freier Mensch ist. Oft sind es ja gerade die kleinen Veränderungen, die Großes bewirken. Was ist also diese innere Haltung des Mitleids, worin unterscheidet sie sich von sentimentalen Tendenzen und warum wird sie zu Freiheit?
Das Mitleid ist etwas verallgemeinert ein Mitgefühl, mit dem man im Fühlen mehr beim anderen ist, als bei sich selbst. Im vorigen Monat erwähnte ich das von Rudolf Steiner beschriebene selbstlose Zuhören, bei dem der Drang, die eigenen Meinungen, egal welcher Art, ob Zustimmung oder Ablehnung, Gedanken oder Gefühle, zurückgehalten werden. Steiner schloss diesen Gedanken mit den Worten:
„Wenn er [der sich geistig schult] sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann, wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das «Verkehrteste» sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört dann durch die Worte hindurch in des anderen Seele hinein.“ ¹
Das Verschmelzen mit dem Wesenskern könnte leicht mit dem Gefühl verwechselt werden, wie die Schokolade auf der Zunge zerschmilzt. Steiner spricht hier aber nicht vom Genuss, sondern von einer zu überwindende Barriere, die einen Widerstand bildet: „Da spielt sich etwas völlig Verkehrtes vor mir ab.“ Und nun gehört eine innere Kraft dazu, zu sagen: „Ich höre zu, auch wenn ich es für völlig verkehrt halte, was der Mensch gerade sagt“. Welch hohe Anforderung, das muss man schon aushalten können! Dieses durch die Worte hindurch zum Wesen eines anderen Menschen zu finden muss eine sehr hohe Form der Begegnung oder inneren Beziehungsaufnahme sein, die sich frei macht von Zustimmung oder Ablehnung. Man darf das Verschmelzen mit dem Wesen eines anderen jedoch auch nicht bloß als Selbstreduzierung und Aufopferung des eigenen Wesens verstehen. Es ist eben ein Unterschied, ob ich meinen Widerstand überwinde oder ob ich mein Bewusstsein ausschalte und nur emotional verschmelze. Gerade diese Überwindung des Widerstandes geht über das sentimentale oder auch „gewollte“ Verschmelzen mit dem Wesen eines anderen hinaus. Man kann weder emotional noch willentlich verschmelzen, das wäre eine Einbildung. Vielmehr bringt Steiner zum Ausdruck, wie sich am Widerstand eine neue Wahrnehmung entwickelt, die zunächst noch nicht vorhanden ist. In dieser Art der Wahrnehmung drückt sich bereits ein Stück entwickelte Freiheit aus.
Das Erleben eines Widerstandes kennen wir als Yogaübende in vielen Formen und sehr unmittelbar bei der Kopf-Knie-Stellung. Aber auch bei rückwärtsbeugenden Übungen wie z.B. dem Halbmond. Während man bei der Kopf-Knie-Stellung die Dehnung der Beine oder auch die Blockade des Beckens als Grenze der Vorwärtsbewegung spürt, ist es beim Halbmond vor allem die Unbeweglichkeit des Rückens für die Rückwärtsbewegung. Die Muskulatur des Rückens ist wie eine Blockade und wirkt nicht geschmeidig zusammen.
In den Übungen bin ich aufgefordert, diesen Widerständen in einer bestimmten Weise zu begegnen. Ich könnte versuchen, sie willentlich zu durchbrechen oder technische Hilfsmittel oder Tricks einzusetzen. Ich könnte mir auch sagen, ich bleibe sanft und gehe gar nicht erst so weit hinein, sondern nur so weit, wie ich mich wohl fühle. Eine andere Möglichkeit, ist die Frage: Welches Bewusstsein kann ich an dem Widerstand entwickeln? Wie bin ich innerlich gefordert?
In der Kopf-Knie-Stellung bin ich aufgefordert, trotz Widerstand die Form zu halten und sogar zu finden! Der Widerstand soll mich nicht abhalten, mich mit der Bewegung und Form auseinanderzusetzen, ihn aber auch nicht blind zu durchbrechen. Es entwickelt sich eine innere Stärke, dem Widerstand zu begegnen, ihn ertragen und annehmen zu können. Das ist durchaus damit vergleichbar, eine völlig entgegengesetzte Meinung zu ertragen, ohne mich abzuwenden oder mit meiner eigenen Meinung „durchbrechen“ zu wollen.
Es ist kein Zufall, dass der Halbmond leichter auszuführen ist, wenn die Kopf-Knie-Stellung in lebendiger Weise voraus geht. Das lässt sich muskulär erklären, da man beim Vorwärtsbeugen schon ein Gefühl für die Spannungsverteilung bekommt und der Rücken gedehnt wird, es drückt sich aber auch in der Bewusstseinshaltung aus. Nachdem ich sozusagen den Widerstand ertragen habe und dadurch etwas freier von Gefallen und Missfallen geworden bin, kann ich mich beim Halbmond leichter öffnen. Das Öffnen geschieht in der Phase kurz vor dem Rückwärtsbeugen, indem ich ruhig werde und das Zuviel an Spannungen zurückweichen lasse. Das entspricht dem Zuhören – eine Offenheit im Bewusstsein, bevor sie über den Körper gestaltet wird.
Das Verschmelzen mit dem Wesenskern
Ich denke, dass gerade der Wesenskern eines Menschen der ist, welcher mit einem Entwicklungswunsch durch das Leben geht. Es ist nur die Frage, ob einem selbst bewusst ist, was man im Leben lernen und entwickeln möchte. Man kann sicher davon ausgehen, dass sich dies nicht immer in einer Übereinstimmung mit den äußeren Verhaltensweisen zeigt, welche evtl. sogar gegenläufig dazu sind, was man als Ideal anstrebt. Es ließe sich ja erwägen, ob sich der Wesenskern und Entwicklungswunsch nicht gerade hinter diesen Unvollkommenheiten und Irrtümern verbirgt. Es gibt so etwas wie eine Schale und ein Kern bei jedem Menschen. Das, was Steiner mit dem Wesen verschmelzen meint, ist eigentlich eine Wesens-Wahrnehmung und Wesens-Erkenntnis, die aber bis in die Empfindung geht. Steiner drückte dieses empfindungsmäßige Erkennen an einer anderen Stelle, die ich bei der Tugend der Devotion zitiert habe, folgendermaßen aus: „Man bedenkt dabei [bei Gefühlen wie Ehrerbietung und Achtung] aber nicht, dass die Seele es ist, welche erkennt. Und für die Seele sind Gefühle das, was für den Leib die Stoffe sind, welche seine Nahrung ausmachen. … Für sie sind Verehrung, Achtung, Devotion nährende Stoffe, die sie gesund, kräftig machen; vor allem kräftig zur Tätigkeit des Erkennens.“ ²
Dem kritiklosen und damit selbstlosen Zuhören gesellt sich nun die Achtung vor dem Wesen des anderen hinzu. Das Wesen ist ja dasjenige, welches durch eine Entwicklung gehen möchte, gleich, wie vollkommen oder unvollkommen man als Mensch ist. Es ist ja eine Notwendigkeit, zum Wesen des anderen hindurchzukommen, wenn man sich wirklich einfühlen will. Und wie schon gesagt, um sich einfühlen und eindenken zu können, muss die eigene Meinung, das eigene Denken und Fühlen verlassen werden, wenn es zum Erkennen eines anderen Menschen führen soll.
Wie kann man im Yoga das Einfühlen schulen?
Über die körperliche Bewegung kann ebenfalls die Wahrnehmung geschult werden. Dafür muss man auch einen Zusammenhang schaffen und wissen, worauf man die Aufmerksamkeit lenkt. Zum Beispiel kann das Verhältnis vom eigenen Körper und der Bewegung zum umgebenden Raum untersucht werden: Wie erlebe ich die Gliedmaßen? Was ist das charakteristische der Gliedmaßen im Verhältnis zum Raum?
Die Yogaübung „Kamel“ führt besonders in der Bewegungsphase zum Erleben der Arme im Außenraum. Nun ist es für die Wahrnehmung sehr bereichernd, wenn man beispielsweise auf den Luftzug achtet, der mit der Armbewegung entsteht – ohne natürlich darin zu schwelgen, versteht sich. Der Luftzug wird ganz natürlich an der Haut wahrgenommen. Die Haut ist die äußerste Schicht, die Peripherie. So sollte bei der Übung das Wahrnehmen der Peripherie auch wirklich entstehen, selbst dann, wenn man darauf schon hundert Mal geachtet hat. Denn an der Peripherie kommen wir in Berührung mit dem Raum, wir sind nicht mehr so stark in uns selbst abgegrenzt. Das Bewusstsein wird mit der Wahrnehmung offener.
Dann kann man mit der Bewegung auf die Form achten, die man gestaltet, so dass ein größtmöglicher Kreis gezogen wird. Man geht also vom Bild des Kreises in die Bewegung und achtet auf die Kreislinie, die mit den feinen Fingerspitzen gezeichnet wird. Die Arme dürfen dabei weit ausholen und der gesamte Oberkörper darf der Ausdehnung folgen. Man erlebt sich mehr im Raum, als im Körper drinnen – es entsteht Außenwahrnehmung.
Die Wirkung auf den Körper entsteht sekundär: er weitet sich, die Flanken dehnen sich und die Wirbelsäule erhält einen durchlaufenden Impuls.
Nun ist es gut, einmal im Kniestand der Übung innezuhalten, die Arme locker hängen zu lassen und nur auf den eigenen Körper zu achten: Kniestand, Aufrichtung, lockere Schultern und Arme, entspanntes Gesicht, entspannter Bauch und natürlich fließender Atem. Dann lenke man die Aufmerksamkeit nach außen: umgebender Raum, freier Raum, Luft. In diesen Raum streifen die Arme wie „fühlende Sinnesorgane“ hinaus. Wieder gehe man in die gleiche Bewegung, diesmal mit dem Gedanken des Einfühlens. Dabei sollte man aber nichts fühlen wollen, das Gefühl entsteht von selbst! – Die Wahrnehmung geht über die Grenze des Körpers hinaus. Man kann sich dabei auch vorstellen, man würde aus dem Raum hinausgezogen werden. Wahrnehmen bedeutet offen sein für die Außenwelt, es kommt die Außenheit an die eigene Seele heran.
Bei jeder Yogaübung kann man die Haltung im Verhältnis zum Raum untersuchen und dabei auf die Stellung und Bewegung der Gliedmaßen achten. Mal beschreiben Sie bestimmte Formen, ein anderes Mal sprießen sie hinaus und wieder ein anderes Mal kommen sie zur Ruhe oder sind sogar fixiert. Der Grundgedanke ist immer das Ich im Verhältnis zum Außenraum. Das wird in jeder Übung anders sein. Wichtig ist, dass man mit wachen Sinnen beteiligt ist!
Auch der „Drehsitz“ (siehe Großmut) wäre hier interessant: Die Bewegung der Arme im Außenraum, kombiniert mit der Drehung und dem neutralen Blick zurück. Die Drehung steht dabei analog zur mentalen Übung der Rückschau.
Wie ist die Freiheit zu verstehen?
Abschließend wäre noch die Frage nach der Freiheit zu besprechen. Die Freiheit versteht man gewöhnlich im grenzenlosen Tun-und-Lassen-Können, was man will, oder darin, sich alle Wünsche zu erfüllen und allen Sehnsüchten nachgehen zu können. Man kann die Freiheit aber eben auch darin sehen, persönliche Grenzen überschreiten zu lernen, Widerstände verwandeln zu können und ihnen nicht unterworfen zu sein, freier sein von Gefallen und Missfallen und damit die Möglichkeit zu haben, sich in das Wesen eines Menschen einfühlen zu können, den Dingen einen anderen Lauf zu geben, Entwicklungen zu fördern, Beziehungen aufzubauen oder zu klären – eben nicht dem Lauf des Schicksals unterworfen zu sein, sondern selbst aus Erkenntnis eingreifen zu können. Darin liegen gerade die Möglichkeiten des Menschen.
- Rudolf Steiner, Wie Erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, S. 50
- ebenda S. 25