09 Höflichkeit, Monatstugenden
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Höflichkeit und Form

emporheben in der Winkelsitzhaltung

Verhaltensformen werden in unserer gegenwärtigen Zeit oft als Zwang gewertet. Verständlich, wenn Umgangsformen sehr streng eingefordert werden. Dagegen steht der Wunsch nach freilassendem und entspanntem Miteinander. Aber gibt es nicht auch etwas Positives daran, eine Form zu wahren, wie es beispielsweise die Höflichkeit ist? Was geschieht dabei, wenn ich trotz evtl. berechtigtem Ärger die Form wahre und höflich bleibe?

Die Form wahren

Wenn man beispielsweise bei einem Problem einen Anruf tätigt und für eine einfache telefonische Auskunft gezwungen wird, mit einem Automaten zu sprechen und immer wieder aufgefordert wird, für diesen und jenen Fall diese und jene Taste zu drücken, nur um dann zu hören, dass die Wartezeit voraussichtlich 16 Minuten dauert und man dabei vielleicht schon mehrere Anläufe unternommen hat, kann das schon einige Nerven kosten, so dass man bereits sehr gereizt in das Gespräch geht. Jedoch löst sich diese Anspannung schnell wieder auf, wenn der Gesprächspartner trotz meiner Gereiztheit höflich bleibt. So etwas habe ich schon oft als sehr aufbauend erlebt und konnte die Höflichkeit daraufhin auch selbst wieder finden.

Das „Wahren der Form“ kann sehr viel bewirken, selbst wenn dies ganz sachlich geschieht: man spürt den Respekt und kann selbst wieder leichter auf eine freiere Ebene steigen. Daher ist es in vielen Situationen durchaus positiv, mit der Höflichkeit Distanz zu schaffen – nicht zuletzt die Distanz zu den eigenen aufgewühlten Gefühlen.

Die Bedeutung der Form 

Die Yogaübung als Körperhaltung ist eine bewusst gewählte Form. Die richtige Form und Haltung muss zunächst einmal erlernt werden. Dabei stößt man an die eigenen Grenzen, was sehr mühsam werden kann und vielleicht ist die Haltung auch noch garnicht oder nur in vereinfachter Weise möglich. Jedoch ist es wiederum überraschend, wie die Übenden nach einiger Zeit beinahe unerwartet Zugang zur Form und Beweglichkeit finden, was erst einmal weit weg zu sein schien. Zu Beginn musste der Wille angestrengt, die einen oder anderen „Bewegungs-Gewohnheiten“ korrigiert werden und man musste sich wiederholt auf die scheinbar unerreichbare neue Form einstellen. Gewohnheiten und Automatismen zeigen besonders in der Körperhaltung, wie viel Mühe und bewusste Aktivität notwendig sind, um diese zu korrigieren. Wenn man es sich beispielsweise angewöhnt hat, krumm am Schreibtisch zu sitzen, muss man sich ein wenig anstrengen, dagegen zu wirken und sich immer wieder daran erinnern, sich aufzurichten und gerade zu sitzen, um nicht in die alte Gewohnheit zurückzufallen. Eine neue Form ist zunächst einmal eine Hürde, ein Widerstand, an dem wir uns aber reflektieren, korrigieren und formen können.

emporheben in der Winkelsitzhaltung

In der Winkelsitzhaltung, die manche vielleicht auch aus dem Aufwärmtraining beim Sport kennen, wird die besondere Aktivität, entgegen der Schwere die Form einzunehmen und zu bewahren, angeregt. Man ist in der Regel damit beschäftigt, die Beine entgegen der Schwerkraft zu halten und kippt dabei gerne mit dem Becken aus der Aufrichtung zurück. Nun müssen die Beine ganz klar oben gehalten, der unteren Rücken gut aufgerichtet und mit einem beherzten Impuls der Brustkorb angehoben werden. Wenn man sich innerlich dazu aufschwingen kann, diesen Impuls bei aller äußeren Anstrengung aufzubringen, so wirkt diese Übung sehr erquickend – körperlich wie seelisch – und man nimmt die Spannungen irgendwann nicht mehr so tragisch. Dieser Impuls des Anhebens des Brustkorbes ist von der inneren Aktivität her gleich dem, sich im Leben zu einer anderen Verhaltensform aufzuschwingen, wie es ja bei der Höflichkeit der Fall ist, wenn man innerlich bereit ist, einem Menschen respektvoll zu begegnen. Das höfliche Verhalten hebt den Menschen auf eine andere Ebene, es macht freier, so dass eine Begegnung auch bei widrigen Umständen möglich ist.

Das Erleben nach diesem ungewohnten Willenseinsatz in der Winkelsitzhaltung ist eine freudige Stimmung, die damit vergleichbar ist, soziale Spannungen durch Klarheit im Umgang lösen zu können. Man begegnet sich wieder auf einem freieren Niveau.

Die Form schult den Willen

Dieses Aufschwingen geschieht aber nicht von selbst, es verlangt unseren Willenseinsatz. So gesehen können wir an der Form, die wir zunächst als mühsam erleben, stärker werden. Der Wille erkraftet in diesem Sinne viel stärker, wenn wir uns auf etwas einstellen müssen, als wie das im Mythos vom starken Willen, bei dem wir machen können, was wir wollen, enthalten ist – sprich: wenn wir nach Belieben andere beleidigen würden.

Schafft man es im Leben, trotz aller Spannungen und Widrigkeiten, sich um eine höfliche Haltung zu bemühen – und sei dies auch nur in sachlicher Form –, ist dies gleichbedeutend damit, sich analog zur Yogaübung entgegen der Schwere und des inneren Widerstandes aufzuschwingen und guten Willen zu zeigen. Dieser „gute Wille“ im Sozialen ist also im inneren Sinne die gleiche Aktivität, wie wir sie in der Winkelsitzhaltung aufbringen müssen.

Das Bewusstsein erwacht an der Form

Aber auch, wenn der Yogaübende beim Rückwärtsbeugen bemerkt, wie eine Blockade die Bewegung behindert, lässt sich darin erkennen, wie gerade der Widerstand zum Innehalten zwingt und dadurch die Aufmerksamkeit in die Gegenwart ruft. Die Form muss dann sorgfältiger mit viel Feinabstimmung gefunden werden. Insofern kann die Form durch ihren Widerstand positive Distanz bewirken, die aber wiederum Sensibilität hervorbringt. Auch das Bewusstsein kann also an der Form erwachen.

Denkt man dabei wieder an das Soziale, wird deutlich, wie die durch die Förmlichkeit geschaffene Distanz nicht immer Antipathie und Eiseskälte bedeuten muss, sondern sogar Wahrnehmung bewirken kann, weil man sich bewusster gegenübertritt.

Drehsitz Ruhephase
Drehsitz – Form in der Basis und Sensibilität in der Schulterebene

Sehr schön ergänzt sich zur Winkelsitzhaltung Der Drehsitz. Eine gute Formung ist in der geschlossenen Stellung der Beine nötig. In der Drehung wird die Beinstellung zum Widerstand. Achtet man dann aber auf die sich öffnende Schulterebene, entsteht Sensibilität. Die hintere Schulter öffnet sich langsam, eher sanft, mit der Drehung. Sie darf nicht forciert werden. In dieser Art der Ausführung lässt sich Formkraft und Sensibilität im Zusammenwirken erleben.

Kleiner Zyklus

Ein kleiner Übungszyklus ergibt sich, wenn die Winkelsitzhaltung mit dem Drehsitzt ergänzt wird:

  1. Im Sitzen um die Beine fassen und auf dem Steißbein balancieren. Dabei den Rücken aufrichten. Nach einer kurzen Phase der Ruhe gleichzeitig die Beine ausstrecken und die Arme über den Kopf führen und mindestens 5-10 Sekunden halten. Dies 3 x im Wechsel ausführen. Danach kurz in der Rückenlage entspannen.
  2. Für den Drehsitz vom Fersensitz aus links absetzen, das rechte Bein überschlagen und den Fuß außen neben dem Knie abstellen. (Wahlweise kann das am Boden liegende Bein zur Vereinfachung auch ausgestreckt werden.) Den Sitz sehr sorgfältig einrichten, indem die Hände um das Knie gelegt werden und die Finger ineinandergreifen. Dabei richtet sich das Becken auf und Bauch und Oberschenkel bewegen sich aufeinander zu. Die Form schließt sich.
    Dann erst mit dem freien Arm kreisförmig ausholen und hinter dem Rücken die Finger absetzen. Die Drehung entsteht und der Oberkörper öffnet sich wieder nach außen.
  3. Achte darauf, dass der Kopf frei von Spannungen bleibt und die Schultern auf gleicher Höhe in der Ebene liegen. Halte sie gelöst und folge behutsam der Drehung, indem sich die hintere Schulter sanft mit der Drehung ein wenig zurück bewegt. Gehe dabei sensibel vor!
  4. Wieder vom Fersensitz beginnen, diesmal rechts absetzen und die andere Seite ausführen.
  5. Nach dem Drehsitz kann die Winkelsitzhaltung noch einmal wiederholt werden. Anschließend in der Rückenlage entspannen.

4 Kommentare

  1. Erica Gothein sagt

    Ich habe einmal bemerkt wie viel ich verändern kann in der Haltung des anderen wenn ich einfach nur höflich bin. Diese Haltung wirkt dann auch wieder direkt auf mich zurück.

    In den Yogaübungen habe ich erlebt, dass je schwerer mir die Übung fällt um so mehr lerne ich im Tun. So dass der Widerstand, der mich zum Innehalten und Dranbleiben herausfordert mir die Übung erst wirklich erschließt. Die Form, die ich dadurch lerne auszuführen die wirkt dann wieder auf mich zurück und so entsteht Freude.

  2. Renate sagt

    Danke für Deine Ausführungen. Yoga ist mehr als Bewegung, zumindest mehr als nur äußere Bewegung.

    • Regina sagt

      Danke für Deinen Kommentar, Renate.
      Ja, man lernt viel von sich in den Übungen kennen. Und wenn man die Bewegung als Ausdruck einer Seelenhaltung nimmt, kommt zur rein körperlichen Bewegung etwas hinzu.

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