07 Selbstlosigkeit, Monatstugenden
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Selbstlosigkeit wird zu Katharsis.

Yogaübung Schiefe Ebene: das Loslassen

„In jedes gute Herz ist das edle Gefühl von der Natur gelegt, daß es für sich allein nicht glücklich sein kann, daß es sein Glück in dem Wohl der andern suchen muß.“

– Johann Wolfgang von Goethe –

Bei dem Wort „Selbstlosigkeit“ kann schnell die Stimmung entstehen, man dürfe nicht glücklich sein und nichts für sich selbst wünschen. Das eigene Glück spricht Goethe jedoch dem Herzen nicht ab, aber er führt es in die Beziehung zum anderen. Es findet sich also im Außen. Wie verhält es sich aber in einem Zeitalter der Individualisierung? Besonders in unserer gegenwärtigen Zeit ist auffällig, wie die Betonung auf der individuellen Entwicklung liegt. Weniger die familiäre, traditionelle, kulturelle, religiöse oder nationale Zugehörigkeit gibt dem einzelnen Menschen Verhaltensregeln und z.B. auch die Berufswahl und seinen Werdegang vor, sondern der Mensch handelt zunehmend nach seinen eigenen Impulsen, seiner Wahrnehmung, Erkenntnis und seiner selbst getroffenen Entscheidung. Das Selbstgefühl oder Selbstbewusstsein, die Selbstbestimmung ist heute viel stärker, als es in früheren Zeiten war. Und darin liegt sicher auch eine besondere Aufgabe. Lenkt das aber nicht gerade sehr stark die Aufmerksamkeit auf sich selbst und die eigene Entwicklung? Kann man selbstlos und zugleich individuell sein? Und: Bedeutet „selbstlos sein“ sein Ich loszuwerden? Was ist dieses Ich im Verhältnis zur Umgebung?

Ein Ende Juni dieses Jahres veröffentlichter Artikel „Yoga steigert das Ego“¹ bezog sich auf eine Studie, die der Frage nachging, ob Yoga und Meditation wirklich das Ego überwinden, oder vielmehr in eine zunehmende „Selbstzentralität“ und „Selbstüberschätzung“ führen und nicht zu Demut und Bescheidenheit. (Ich persönlich finde es übrigens sehr befremdlich, wenn Yoga oder Meditation so aufgefasst werden, als sollen sie zu Demut und Bescheidenheit führen, was vermutlich auch wieder sehr altertümlich aufgefasst wird.) Die Studie zielte darauf ab, dass sowieso jede Beschäftigung, die einem etwas bedeutet, zu einem besseren Selbstwertgefühl führe, welches also eher gesteigert und nicht abgebaut würde. Das ist wohl gut beobachtet, aber das ist dennoch keine sehr differenzierte Betrachtung. Vielmehr könnte man ja auch die Frage stellen, wie wirkt die Yogaübung im Ausdruck, wenn sie unter einem reinen Nutzaspekt („wenn ich dies und das tue, habe ich diesen und jenen Gewinn für mich“) geübt wird und wie wirkt sie, wenn sich der Übende ganz auf sie einstellt und sie in ihren Gesetzen untersucht? In beiden Fällen wird die gleiche Übung ausgeführt, aber der Mensch, der sie macht kann sich dabei ganz unterschiedlich in Beziehung bringen. Was wird denn eigentlich in der Selbstlosigkeit abgelegt, und: entsteht dabei nicht auch etwas?

Führt man den Begriff der Selbstlosigkeit über die mittelalterliche Auffassung der Selbstkasteiung hinaus – denn der Schreiber des Artikels und die Psychologen hinter der Studie haben die Selbstlosigkeit anscheinend nur als Selbstreduzierung aufgefasst – dann geht es eben nicht darum, sein Selbst in „wohliger Transzendez aufzulösen“, wie spöttisch bemerkt wurde. Stellt man sich wirklich auf die Übung ein, hinterfragt und ergründet man sie, indem man z.B. überlegt, wie eine durchlaufende Dynamik entsteht, dann ist man mehr beim Gegenstand der Übung, als bei sich selbst. Dieses Verhältnis gleicht dem Vers von Goethe, dass man das Glück nicht in sich sucht, sondern im Entdecken der Bewegung und Haltung, also im Außen, sozusagen im „Du“. Es ist ähnlich wie beim Üben eines Musikinstrumentes, wo man natürlich die ganze Aufmerksamkeit auf die Spieltechnik, den Rhythmus und den Klang legt und rückwirkend wird man glücklich, wenn nach vieler Mühe die Musik Form und Ausdruck bekommt. Dafür musste aber einige Zeit der Aufmerksamkeit geopfert werden. So komme ich zu dem Begriff der Selbstlosigkeit als Opfer des bisherigen Selbst zugunsten eines neuen Selbst. Wie es schon beim Thema Ausdauer herauskam, möchte der Mensch nicht stagnieren, sondern sich entwickeln. Aber dabei gibt er immer auch etwas von sich hin.

Es scheint mir auch kein Zufall zu sein, dass die Selbstlosigkeit als Übung nach der Ausdauer kommt, in der ja auch ein Opfer liegt. Aber in jeder Tugend klang bisher ein wenig von der Selbstlosigkeit hindurch:

  • In der Aktivität des Mutes, die sich in Zaghaftigkeiten und Ängsten selbst überwindet.
  • Bei der Diskretion folgt man nicht den drängenden Impulsen, sondern lernt, sich im richtigen Moment zurückzuhalten.
  • Die Großmut, welche das eigene Richten, die Rachegefühle oder Genugtuung überwindet und sich in Nachsicht und im Weitblick übt.
  • Dann ganz besonders die Devotion in der Achtung gegenüber Wahrheit, in der man sich selbst auch mal relativieren kann.
  • Auch das Gleichgewicht sucht ja einen freien Stand zwischen innen und außen, Einseitigkeiten ausgleichend, und bleibt rege, schließt sich nicht ab.
  • Und schließlich die Ausdauer, bei der die Bemühung zum Ziel wichtiger ist, als die eigene Lust oder Unlust.

Nun haben wir in den Kursen bei jeder Tugend untersucht, in welcher Bewegung oder Form es evtl. eine Übereinstimmung mit der inneren Haltung hinter der äußeren Form und der Gesinnung einer Tugend liegt. Es gibt eine Gestik beim Rückwärtsbeugen, bei der eine bestimmte Art des Loslassens von sich selbst erlebt werden kann. Die Übung „Schiefe Ebene“ ist die Grundgestik des Rückwärtsbeugens, bei dem der Kopf losgelassen, die Wirbelsäule bogenförmig durchgespannt und die Vorderseite geöffnet wird. In der Vorbereitung stellt man sich gedanklich-bildhaft auf den Bewegunsgablauf und die ideale Form ein. Man „malt“ sich die Übung vorweg aus, um die Haltezeit nicht nur irgendwie durchzuhalten, sondern sie auch innerlich mitgestaltet.

Yogaübung Schiefe Ebene Vorbereitung

Bewegung, Form und Haltezeit „ausmalen“

Yogaübung Schiefe Ebene, Haltephase

dann möglichst weit oben bis zu 1 min halten.

Die wesentliche Aktivität, über den körperlichen Einsatz hinaus, liegt darin, sich auf etwas außerhalb seiner selbst einstellen zu können. Das beginnt bereits in der Vorbereitung. Bei der „Schiefen Ebene“ wird deutlich, dass man hier kein Glück für sich selbst suchen kann, das erledigt sich spätestens in der anstrengenden Haltephase. Es geht in der Yogaübung nicht primär um ein Wohlgefühl für sich selbst oder dass man nur das macht, was einem gut tut und alles lässt, was einem missfällt. Wenn man gesund ist, kann man den Körper ganz selbstverständlich einsetzen. Alle gefühlsmäßigen Erwartungen und alle fixen Vorstellungen werden aufgegeben. Wenn es gelingt, innerhalb der Anstrengung, den Kopf locker fallen zu lassen, so entsteht ein sich selbst tragender Spannungsbogen, den man noch bis in die Brustwirbelsäule spürt – ein rhythmisches Zusammenwirken zwischen Anspannung und Entspannung. Darin erlebt man sich aktiv und offen zugleich. Das „Glück“ kommt eher indirekt, wenn nämlich diese gegliederte Form entsteht und damit das Erleben der Offenheit trotz Anstrengung. Dieses Erleben kann man sich aber nicht sehnsüchtig herbeiwünschen, sondern muss es erst einmal ergründen. So versteht sich auch der Vers in der Bhagavad Gita: „Lass nicht die Früchte zum Beweggrund deines Wirkens werden! Und sei nicht der Untätigkeit verhaftet!“ (II.47)

Das Überwinden der „Gefühlserwartung“ und das Zurückweichen des Kopfes nimmt gerade in dieser Übung eine besondere Rolle ein. Damit ist aber nicht gemeint, dass man das Denken völlig aufgibt und nichts mehr fühlt. Diesen Teil, der zurückweichen sollte, beschreibt Rudolf Steiner mit folgenden Worten:

„Was für die Ausbildung des Geheimschülers* ganz besonders wichtig ist, das ist die Art, wie er anderen Menschen beim Sprechen zuhört. Er muss sich daran gewöhnen, dies so zu tun, dass dabei sein eigenes Innere vollkommen schweigt. Wenn jemand eine Meinung äußert, und ein anderer hört zu, so wird sich im Innern des letzteren im allgemeinen Zustimmung oder Widerspruch regen. Viele Menschen werden wohl auch sofort sich gedrängt fühlen, ihre zustimmende und namentlich ihre widersprechende Meinung zu äußern. Alle solche Zustimmung und allen solchen Widerspruch muss der Geheimschüler zum Schweigen bringen. Es kommt dabei nicht darauf an, dass er plötzlich seine Lebensart so ändere, dass er solch inneres, gründliches Schweigen fortwährend zu erreichen sucht. Er wird damit den Anfang machen müssen, dass er es in einzelnen Fällen tut, die er sich mit Vorsatz auswählt. Dann wird sich ganz langsam und allmählich, wie von selbst, diese ganz neue Art des Zuhörens in seine Gewohnheiten einschleichen. In der Geistesforschung wird solches planmäßig geübt. Die Schüler fühlen sich verpflichtet, übungsweise zu gewissen Zeiten sich die entgegengesetztesten Gedanken anzuhören und dabei alle Zustimmung und namentlich alles abfällige Urteilen vollständig zum Verstummen zu bringen. Es kommt darauf an, dass dabei nicht nur alles verstandesmäßige Urteilen schweige, sondern auch alle Gefühle des Missfallens, der Ablehnung oder auch Zustimmung. Insbesondere muss sich der Schüler stets sorgfältig beobachten, ob nicht solche Gefühle, wenn auch nicht an der Oberfläche, so doch im intimsten Innern seiner Seele vorhanden seien. Er muss sich zum Beispiel die Aussprüche von Menschen anhören, die in irgendeiner Beziehung weit unter ihm stehen, und muss dabei jedes Gefühl des Besserwissens oder der Überlegenheit unterdrücken. – Nützlich ist es für jeden, in solcher Art Kindern zuzuhören. Auch der Weiseste kann unermesslich viel von Kindern lernen. – So bringt es der Mensch dazu, die Worte des anderen ganz selbstlos zu hören, mit vollkommener Ausschaltung seiner eigenen Person, deren Meinung und Gefühlsweise. Wenn er sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann, wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das «Verkehrteste» sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört dann durch die Worte hindurch in des anderen Seele hinein.“²

In der vorher beschriebenen Yogaübung kann etwas Ähnliches, wie das Durch-die-Worte-Hindurchhören andeutungsweise erlebt werden, wenn nämlich mit der Offenheit in der Anstrengung eine bestimmte Art der Körperfreiheit eintritt und man sich nicht mehr so sehr abgegrenzt vom Raum erlebt. Die Haltung wird dann spürbar leichter ohne aber „abzuheben“.

Aber das Zurückstellen dieser beschriebenen Gefühlsart der Ablehnung und Zustimmung, also der eigenen Sympathie und Anthipathie, ist nicht so asketisch zu verstehen, als dürfe man keine Wünsche mehr haben und nichts mehr genießen. Es ist nicht möglich, sich selbst wirklich ganz auszuschalten, wenn man zur Außenwelt in Beziehung treten will. Wieder möchte ich dazu einen Gedankengang von Rudolf Steiner vorstellen, der eigentlich sehr einfach verständlich ist und dennoch kommt eine sehr wichtige Unterscheidung darin zum Ausdruck, was die Richtung der Aufmerksamkeit und den Genuss betrifft:

„Der Geheimschüler* wird darauf verwiesen, sich Augenblicke in seinem Leben zu schaffen, in denen er still und einsam sich in sich selbst versenkt. Nicht den Angelegenheiten seines eigenen Ich aber soll er sich in solchen Augenblicken hingeben. Das würde das Gegenteil von dem bewirken, was beabsichtigt ist. Er soll vielmehr in solchen Augenblicken in aller Stille nachklingen lassen, was er erlebt hat, was ihm die äußere Welt gesagt hat. Jede Blume, jedes Tier, jede Handlung wird ihm in solchen stillen Augenblicken ungeahnte Geheimnisse enthüllen. Und er wird vorbereitet dadurch, neue Eindrücke der Außenwelt mit ganz anderen Augen zu sehen als vorher. Wer nur Eindruck nach Eindruck genießen will, stumpft sein Erkenntnisvermögen ab. Wer, nach dem Genusse, sich von dem Genusse etwas offenbaren lässt, der pflegt und erzieht sein Erkenntnisvermögen. Er muss sich nur daran gewöhnen, nicht etwa nur den Genuss nachklingen zu lassen, sondern, mit Verzicht auf weiteren Genuss, das Genossene durch innere Tätigkeit zu verarbeiten. Die Klippe ist hier eine sehr große, die Gefahr bringt. Statt in sich zu arbeiten, kann man leicht in das Gegenteil verfallen und den Genuss nur hinterher noch völlig ausschöpfen wollen. Man unterschätze nicht, dass sich hier unabsehbare Quellen des Irrtums für den Geheimschüler eröffnen. Er muss ja hindurch zwischen einer Schar von Verführern seiner Seele. Sie alle wollen sein «Ich» verhärten, in sich selbst verschließen. Er aber soll es aufschließen für die Welt. Er muss ja den Genuss suchen; denn nur durch ihn kommt die Außenwelt an ihn heran. Stumpft er sich gegen den Genuss ab, so wird er wie eine Pflanze, die aus ihrer Umgebung keine Nahrungsstoffe mehr an sich ziehen kann. Bleibt er aber beim Genusse stehen, so verschließt er sich in sich selbst. Er wird nur etwas für sich, nichts für die Welt bedeuten. Mag er in sich dann noch so sehr leben, mag er sein «Ich» noch so stark pflegen: die Welt scheidet ihn aus. Für sie ist er tot. Der Geheimschüler betrachtet den Genuss nur als ein Mittel, um sich für die Welt zu veredeln. Der Genuss ist ihm ein Kundschafter, der ihn unterrichtet über die Welt; aber er schreitet nach dem Unterricht durch den Genuss zur Arbeit vorwärts. Er lernt nicht, um das Gelernte als seine Wissensschätze aufzuhäufen, sondern um das Gelernte in den Dienst der Welt zu stellen.

Es ist ein Grundsatz in aller Geheimwissenschaft*, der nicht übertreten werden darf, wenn irgendein Ziel erreicht werden soll. Jede Geheimschulung muss ihn dem Schüler einprägen. Er heißt: Jede Erkenntnis, die du suchst, nur um dein Wissen zu bereichern, nur um Schätze in dir anzuhäufen, führt dich ab von deinem Wege; jede Erkenntnis aber, die du suchst, um reifer zu werden auf dem Wege der Menschenveredelung und der Weltenentwicklung, die bringt dich einen Schritt vorwärts. Dieses Gesetz fordert unerbittlich seine Beobachtung. Und man ist nicht früher Geheimschüler, ehe man dieses Gesetz zur Richtschnur seines Lebens gemacht hat. Man kann diese Wahrheit der geistigen Schulung in den kurzen Satz zusammenfassen: Jede Idee, die dir nicht zum Ideal wird, ertötet in deiner Seele eine Kraft; jede Idee, die aber zum Ideal wird, erschafft in dir Lebenskräfte.“³

Die Selbstlosigkeit kommt bei Steiner darin zum Ausdruck, dass das Gewonnene nicht bei einem selbst bleibt, sondern verarbeitet wird und dadurch wieder der Welt zugute kommt. Der Sinneseindruck wird genossen, verarbeitet und als Reifen und Lernen angesehen. Dabei schließt man sich für die Außenwelt auf und muss nicht der Welt entsagen und sich asketisch von ihr abwenden. Dem Genuss wird nicht entsagt, sondern er wird vielmehr umgewandelt und auf eine neue Stufe gehoben. Ich denke, so können wir die Katharsis auffassen: eine Reinheit, welche dadurch entsteht, dass sich die von Steiner beschriebenen Neigungen, Urteile, bestimmte Gefühle wie Missfallen, Ablehnung, Zustimmung, Überheblichkeit usw. verlassen werden, dass man sie herauslösen lernt und dadurch äußere Barrieren überwindet – die eigenen und auch die Äußerlichkeiten des Gegenübers oder einer Sache – und dadurch hinüber findet zum Wesen des anderen oder auch zum Wesenhaften der Natur. Ein reines wahrnehmen und empfinden, welches der inneren Realität der Wesen näher kommt, ist wiederum verwandt mit der nächsten Tugend: dem Mitleid oder Mitgefühl.


1) Yoga steigert das Ego, nachzulesen z.B. hier 
2) Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Die Stufen der Einweihung – Die Vorbereitung (S. 30)
3) Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Bedingungen (S. 10)

* Geheimschüler und Geheimwissenschaft sind Begriffe der geistigen Schulung, welche aber die moralische Entwicklung im Leben selbst sucht. Daher haben diese Gedanken auch für die allgemeine Seelenpflege ihre Bedeutung, selbst wenn man sich nicht als Geheimschüler, sondern nur als Studierender betrachtet.

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