09 Höflichkeit, Monatstugenden
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Höflichkeit – Geste der Sensibilität

Vorwärtsbeuge mit Öffnung

Im September beschäftigten wir uns in den Kursen mit der Höflichkeit als Haltung. Dabei haben wir unterschieden zwischen Höflichkeitsformen, die man zunächst lernt, und Höflichkeit als innerer Sinn, als Sensibilität, Wahrnehmung und Aufmerksamkeit für andere Menschen. Bei der höflichen Verhaltensweise sprechen wir von einer äußeren Form, so wie man z.B. „guten Tag“ sagt. Man empfindet das Verletzen solch einer Form als unhöflich. Ebenso kann es unhöflich sein, wenn eine Form ohne wirkliche Aufmerksamkeit für den anderen angewendet wird. Hat jemand einen Schicksalsschlag oder schmerzliche Veränderungen im Leben erfahren, wird man das in der Begegnung berücksichtigen, sensibel sein und keine überschwänglichen Fragen stellen, auf die derjenige vielleicht gar nicht antworten möchte. Daran lässt sich erahnen, dass Höflichkeit nicht allein Form, sondern auch Sensibilität, Aufmerksamkeit und Empathie sein kann, bei der die Person des anderen berücksichtigt wird und Vorrang gegenüber den eigenen Interessen hat.

Die „Höflichkeit wird zu Herzenstakt“ beschreibt Rudolf Steiner die Entwicklung dieser Tugend. Was meint er wohl mit Herzens-Takt? – Ein Taktgefühl mit Betonung auf dem Herzen, demnach ist also kein Bauchgefühl gemeint. Wie führt also das Üben der Höflichkeit zu diesem inneren Taktgefühl aus dem Herzen?

Bleiben wir noch bei der äußeren Form der Höflichkeit im Verhältnis zur inneren Seite. Dazu äußerte Steiner sich folgendermaßen:

„Nur diejenigen achten die strengen Formen gering, welche nicht wissen, dass im Äußeren das Innere zum Ausdruck kommen muss. Es ist wahr, dass es auf den Geist einer Sache ankommt, und nicht auf die Form. Aber so wie die Form ohne den Geist nichtig ist, so wäre der Geist tatenlos, wenn er sich nicht eine Form erschüfe.“ ¹

Es wäre also nicht der Sinn der Sache, auf die Form ganz zu verzichten, weil dem Ideal nach die innere Haltung wichtiger sei. Die Höflichkeit muss auch in einer äußeren Form zum Ausdruck gebracht werden, erst dann wird sie für den anderen spürbar. Die innere Haltung dem anderen in einer gewählten Form entgegenzubringen zeigt eine schöne Art der Hinwendung und eine Aktivität, welche an den anderen gerichtet ist. Form und Inhalt gehören demnach zusammen, das eine benötigt das andere: eine Form die Seele in sich trägt und die Seele die in einer Form im Leben zum Ausdruck gebracht werden möchte.

Stellen wir uns nun die innere Geste der Hinwendung vor, die wach nach außen gerichtet ist, sich sensibel wahrnehmend öffnet, in der Wahrnehmung aber unaufdringlich bleibt, innehält und Raum gibt, nicht nimmt. In einfacher Weise können wir das Idealbild im Ablauf einer Übung zum Ausdruck bringen:

  1. Aufbau einer Bewegung als Aktivität
  2. Innehalten in der Ruhephase, in der das Bewusstsein wach, wahrnehmend, umsichtig und unaufdringlich bleibt
  3. Verlassen der Übung in einer gebenden Geste:
Abschließen der Übung


Das Auflösen der Übung wird gerne übergangen, weil der Hauptteil mit der Schwierigkeit vorüber ist. Gerne lässt man sich aus der Übung fallen und schließt sie nicht richtig ab. Aber gerade in dieser abschließenden Bewegung liegt diese raumgebende Geste ähnlich der Höflichkeit, die dem anderen Vorzug gibt. Wie der Musiker, der sich nach dem Konzert vor dem Publikum verbeugt – nicht nur um seiner Anerkennung, sondern um des dargebrachten Werkes willen –, so ist auch der Yogaübende ein Künstler, der nach dem Gestalteten oder Geschaffenen zurück tritt.

Ein Teilnehmer bezeichnete diesen Teil der Übung einmal mit dem Wort „Würde“. Und man kann wirklich die Empfindung eines Wertes haben, gegenüber dem, was nach der Bemühung bleibt, selbst wenn oder gerade weil man noch mit der Übung gerungen hat.

Das Ideal der Form

Wir fragen beim Yogaüben immer nach dem Ideal der Form: Welche Form soll entstehen? Welches Gesetz liegt darin? Und wie ist der Ausdruck dieses Gesetzes in der Form?

Letztere Frage deutet die innere Haltung an: So, wie bei der Höflichkeit ein bestimmtes Verhältnis zwischen Ich und Du besteht, so besteht auch ein Verhältnis der Körperhaltung zum Außenraum. Eine Haltung kann z.B. so streng werden, dass die Form sehr überspannt wirkt und sich vom Außenraum eher hart abschließt, dagegen kann sich eine überaus lässige bzw. nachlässige Haltung ebenfalls in sich abschließen und keinen Bezug zur Umgebung aufnehmen. In beiden Fällen fehlt die Wahrnehmung. Die Ausdrucksweise soll sich zwischen zu strenger Form und Formlosigkeit neu bilden.

Es gibt eine Übung des Vorwärtsbeugens, die sich in der Geschlossenheit durch die Drehung nach außen öffnet, welche in verschiedenen Schwierigkeitsgraden ausgeführt werden kann.

Yogaübung des Vorwärtsbeugens in der Ausgangsposition
Ausgangsposition
Yogaübung des Vorwärtsbeugens, Bewegungsphase
Vorwärtsbeugen
Yogaübung des Vorwärtsbeugens, Endphase der Drehung
Drehung

Bei dieser Übung entsteht durch die behutsame Drehung nach außen ein Moment der sensiblen Offenheit. Das Erleben der Region der Schlüsselbeine steht am meisten mit dieser sensiblen Empfindung in Verbindung. Besonders bei schwierigeren Übungen neigt man dazu, diese „bewältigen“ zu müssen und verliert sich in eine Art Leistungsstreben. In der Vorwärtsbeuge wird man zwar den niedrigsten Punkt suchen, aber das Ziel ist nicht das weite Hineinkommen, sondern gewissermaßen seinen eigenen Weg des Vorwärtskommens ruhen zu lassen und die sensibel abgestimmte Drehung des Oberkörpers mit der Schulterregion nach außen. Es entsteht der Eindruck „es gibt auch noch etwas anderes“. Die Verwandtschaft zur Höflichkeit liegt in dieser feinen Wahrnehmung der Außenheit nach dem Innehalten im „eigenen Weg“. Es ist auch vergleichbar damit, im richtigen Moment, die richtige Handlung oder die richtigen Worte einzuleiten, um einen Bezug nach außen aufzubauen.

Höflichkeit als Nicht-Verletzen

Höflichkeit kann sehr unterschiedlich motiviert sein und sich in verschiedenen Qualitäten ausdrücken. Der Raja-Yoga, der königliche Pfad, auch 8-Stufen-Pfad nach Patañjali genannt, führt ganz zu Beginn die so genannten Yamas und Niyamas auf, welche die Verhaltensregeln im Sozialen und in der eigenen Lebensführung beschreiben. Eine der Yamas ist ahiṁsā, die Gewaltlosigkeit oder das Nicht-Verletzen. Ahimsa steht der Tugend der Höflichkeit mit dem Willen zu Friedfertigkeit, eben Sensibilität und Freundlichkeit und damit dem Beitragen zu einer guten Atmosphäre sehr nahe. Man kann ja die Atmosphäre sehr stark beeinflussen, wenn man sich beispielsweise vornimmt, Aggressionen zu vermeiden und sich im richtigen Moment zurückzunehmen. Man könnte sich sogar vor schwierigen Begegnungen ganz produktiv überlegen, dass z.B. eine freundliche Atmosphäre entstehen soll, unabhängig davon, wer richtig oder falsch liegt. Eine Kritiksucht kann ja ebenso verletzend sein. Wenn beispielsweise jemand eine neue Arbeitsstelle antritt und gleich alle Mängel der Kollegen kritisiert, so fehlt der Sinn für die bestehende soziale Atmosphäre, in die er hineintritt. Es ist ja bereits etwas da, wozu er noch nichts beigetragen hatte. Auch eine Kritik, die nicht ausgesprochen wird, die immer als Vorwurf vorhanden ist, kann in einer Art Antipathie unmittelbar auf die Atmosphäre wirken.

Eine Haltung, die zur richtigen Zeit, das richtige sagt oder tut, ohne zu verletzen, liegt in der Höflichkeit. Und diese Wahrnehmung baut erst den Bezug oder die Verbindung zum anderen auf. Wenn ich mir vorstelle, mich mit jemandem zu unterhalten, der nicht richtig zuhört oder aber mir ständig ins Wort fällt, so würde ich das als unhöflich empfinden, weil ich mich nicht wahrgenommen fühle. Hier zeigt sich die Höflichkeit indem man jemandem zuhört und ihm nicht ins Wort fällt. Gerade das zu schnelle agieren kann die wirkliche Beziehungsaufnahme verhindern. Es ist direkt eine Willensschulung, sich hier zurückzuhalten. Für Rudolf Steiner ist das eine Bedingung der geistigen Entwicklung:

„Einen Stein in den Weg der Geheimerziehung wirft dem Menschen auch alles, was er sagt, ohne dass er es gründlich in seinem Gedanken geläutert hat. … Wenn mir jemand zum Beispiel etwas sagt, und ich habe darauf zu erwidern, so muss ich bemüht sein, des anderen Meinung, Gefühl, ja Vorurteil mehr zu beachten, als was ich im Augenblick selbst zu der in Rede stehenden Sache zu sagen habe. Hiermit ist eine feine Taktausbildung angedeutet, welcher sich der Geheimschüler sorgfältig zu widmen hat. Er muss sich ein Urteil darüber aneignen, wie weit es für den anderen eine Bedeutung hat, wenn er der seinigen die eigene Meinung entgegenhält. Nicht zurückhalten soll man deshalb mit seiner Meinung. Davon kann nicht im entferntesten die Rede sein. Aber man soll so genau als nur irgend möglich auf den anderen hinhören, und aus dem, was man gehört hat, die Gestalt seiner eigenen Erwiderung formen.“ ²

Wie schwer fällt das nicht, ein erlebtes Vorurteil stehen zu lassen? Eine schöne Formulierung stammt auch von dem indischen Swami Sivananda³, der einmal in etwa äußerte, viele Menschen meinten, Ehrlichkeit bestünde darin, immer sofort jede Unrichtigkeit aufdecken zu müssen. Sie würden dabei aber jegliches Taktgefühl vergessen.
Wie Steiner bereits bemerkte, dass nicht im entferntesten davon die Rede sein kann, seine Meinung zurückzuhalten, sondern eben aus dem anderen und nicht aus dem eigenen Drängen heraus die Erwiderung zu formen, so weist auch Sivananda darauf hin, dass das Taktgefühl höher stehen kann. Es mag manchmal widersprüchlich erscheinen, aber gerade in der Selbstbeherrschung ist es möglich, das Richtige zu tun, was in einer Situation wirklich weiterführt.

Damit wird deutlich, dass in der Höflichkeit gleichermaßen die Fähigkeit liegt, aufbrausende Gefühle zu beherrschen, die Aufmerksamkeit auf den Sachverhalt lenken und sich selbst z.B. zugunsten der Klärung in den Gefühlen zurücknehmen zu können und den richtigen Ton zu wählen. Dabei eignet man sich gleichermaßen die Fähigkeit an, eine Ruhe ins Denken zu bringen. Damit drückt sich in der Höflichkeit auch Selbstbeherrschung aus, denn im Zurückweichen der Emotionen entsteht gedankliche Übersicht und es wird wieder möglich, die Situation zu führen und nicht allein vom Zorn bestimmt zu werden: man kann trotz Ärger und Spannungen höflich sein!

Die Höflichkeit bringt also auch Ruhe zur Sensibilität und Offenheit des Zentrums in der Kehlkopf- und Schultergürtelregion, wie ich das bei der Übung der Vorwärtsbeuge mit Drehung beschrieben habe. Die Kontrolle der impulsiven Reaktionen bilden einen Kreis zwischen dem Chakra beim Sonnengeflecht und dem beim Kehlkopf. Denn das Sonnengeflechts-Zentrum bringt Dynamik, Spontaneität und Impulskraft. Wenn diese Kraft zwar für den Jungendlichen wichtig in der Entwicklung ist, lernt der Erwachsene, sie mehr und mehr im Verhältnis zur Außenwelt im richtigen Maße einzubringen. Damit entsteht ein Gestaltungs-Raum. Bildhaft liegt in der Mitte dieses Kreises beider Zentren der „Herz-Lotus“ oder auch Herz-Chakra genannt. Folglich kann aus dem Zusammenwirken der beiden Zentren im Kreis eine Mitte entstehen und darin bildet sich das innere Taktgefühl aus: der Herzenstakt.

Chakren in Kreisen zueinander
Die Regionen der Chakren

Die Chakren oder Lotusblumen bilden Kreise, wenn man die oberen zu den unteren in Beziehung bringt. In den Yogaübungen lässt sich studieren, wie obere und untere Chakren zusammenwirken. Das Herz bildet jeweils die Mitte. Im richtigen Sinne verstanden können die Yogaübungen ordnend auf das Seelenleben wirken.


1) Wie erlangt man Erkenntnisse der geistigen Welten? Rudolf Steiner, verlinkte Ausgabe S. 139

2) ebenda S. 121/122

3) Swami Sivananda Saraswati, 1887-1963, siehe auch Wikipedia

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